12. Kapitel
Sie ist nett«, sagte Victoria. Lächelnd schaute sie der Blondine mit den umwerfend langen Beinen nach, die hinter der Tür mit der Aufschrift ›Ladies‹ verschwand.
Adam verzog das Gesicht. Victoria irrte sich; »nett« war das Letzte, womit sich Jaquelines Charakter beschreiben ließ. Sie war ein gerissenes, sexhungriges Biest, das gern mit den Naiven dieser Welt ihre Spielchen trieb. Mit fast dreihundert war sie doppelt so alt wie er und Cem. Als er, Adam, noch ein junger Vampir gewesen war, hatte sie ihn in die Welt der Erotik eingeführt. Sie hatten vor langer Zeit einige Monate in Paris zusammen verbracht, und sie hatte es ihm bis heute nicht verziehen, dass er sich damals aus ihrem Kreis von Bewunderern zurückgezogen hatte.
Und jetzt war sie auf einmal hier, in Edinburgh ...
Was zum Teufel wollte sie hier?
»Sei vorsichtig«, warnte er Victoria, »wenn ich du wäre, ich würde mich von ihr fernhalten. Der äußere Eindruck täuscht.«
»Ach ja?« Victoria warf einen besorgten Blick zur Bar.
Adam legte mit einem besänftigenden Lächeln seinen Arm um sie.
»Ich würde nie zulassen, dass dir was zustößt, Mrs. Bilen.
Also schau nicht so besorgt drein.«
Sie grinste ihn an und entspannte sich wieder. »Das beruhigt mich enorm, mein Freund. Cem hat mir ja so einiges über dich erzählt. Du scheinst der reinste Jackie Chan zu sein.«
Adam lachte laut auf. Sie saßen in einem kleinen, lauschigen Alkoven in Whighams Weinkeller. Es war ungewöhnlich voll für einen Donnerstagabend. Die Bar wurde geradezu belagert, und auch die kleinen Tische waren alle besetzt. Sie hatten Glück gehabt, diese Nische noch leer vorzufinden. Ein idealer Platz, wenn man vorhatte, jemanden zu verführen ...
Lea. Adam schüttelte unwillig den Kopf; er wollte jetzt nicht an sie denken. Sie war gegangen, es war ihre Entscheidung. Und damit hatte es sich.
»Du machst so ein finsteres Gesicht«, bemerkte Victoria. Sie schaute besorgt zu ihm auf, und Adam gab sich einen Ruck.
»Ach, das bildest du dir nur ein. Muss an der schlechten Beleuchtung hier liegen.« Adam hob sein Glas, um Victoria aufzumuntern. Wieso machte er sich überhaupt so viel aus dieser Frau? Warum ging sie ihm so unter die Haut?
»Du guckst schon wieder so finster«, bemerkte Victoria.
»Was ist bloß los mit dir? Du bist heute Nachmittag einfach nicht mehr du selbst.«
Sie war eine sehr einfühlsame Frau, was an sich nicht schlecht war, ihm im Moment aber überhaupt nicht in den Kram passte. »Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen. Es ist nichts«, sagte er abwehrend.
»Schon gut, schon gut. Ich wollte dich nicht drängen.
Aber wenn ich was für dich tun kann, dann sag es mir bitte.«
»Ach, Adam lässt sich nie helfen. Das ist so bei ihm.«
Jaqueline ging die zwei Stufen zu ihrem Alkoven hinab.
Mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen beugte sie sich vor, bevor sie sich setzte, um ihnen einen guten Einblick in ihren Ausschnitt zu gewähren. »Das stimmt doch, oder nicht, Schätzchen?«, fragte sie und rückte ihren Stuhl näher an Adam heran.
Victoria runzelte missbilligend die Stirn.
»Was führt dich hierher? Hast du geschäftlich in Edinburgh zu tun?«, erkundigte sich Adam gleichgültig.
Bevor Cem nicht auftauchte und Victoria ablenkte, konnte er kein privates Wörtchen mit der kapriziösen Französin wechseln - und ihr somit auch nicht klarmachen, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte.
Victorias Handy begann zu dudeln. Sie zog es hervor.
»Hallo?«
Jaqueline machte sich diese Ablenkung zunutze und drückte ihre Brüste an Adams Arm. Mit flatternden Lidern schaute sie zu ihm auf.
»Geschäftlich? Ich mache grundsätzlich nichts Geschäftliches. Ich bin nur zum Vergnügen hier, das solltest du doch wissen, mon cher.« Sie strich mit ihren langen, knallroten Fingernägeln über sein Hemd. »Wir haben schöne Zeiten zusammen erlebt, stimmt's nicht?«
Ihre Hand verirrte sich an seinen Gürtel. Adam packte sie und hielt sie fest. »Das ist lange her.«
»Zu lange«, schnurrte.sie. »Komm, wir gehen zu mir.«
Er warf einen besorgten Blick zu Victoria hinüber, die glücklicherweise noch immer telefonierte.
»Ich bin nicht an deinen Spielchen interessiert, Jaqueline. Such dir dein ›Vergnügen‹ woanders.«
Zorn glimmte in den Augen der Vampirin auf, erlosch jedoch sogleich wieder.
»Früher hast du nicht so schnell Nein gesagt. Hast du etwa einen Auftrag, Friedenshüter?«
»Adam?«
Victoria klang so besorgt, dass Adam sich abrupt aufrichtete. »Was ist?«
»Ich weiß nicht.« Sie hielt verwirrt ihr Handy hoch. »Ein höchst seltsamer Anruf. Es war Madame Foulard. Sie ... sie klang sehr besorgt. Sie möchte sich mit mir treffen.«
Lea hatte Victoria angerufen?
»Wer ist Madame Foulard?« Jaqueline war nicht gerade erfreut darüber, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt stand.
Adam beachtete sie nicht. »Was hast du geantwortet?«
»Ich habe gesagt, sie kann hierherkommen. War das dumm von mir?«, fragte Victoria unsicher. »Es ist nur ... es schien wirklich dringend zu sein.«
»Nein, das war nicht dumm. Wir werden ja bald erfahren, was sie will«, beruhigte Adam sie.
Was zum Teufel konnte Lea von Victoria wollen? Ob sie ihn, Adam, wiedersehen wollte? Bei dem Gedanken breitete sich ein warmes Gefühl in seiner Brust aus, und das gefiel ihm nicht.
»Sie will mit Cem reden. Sie hat gesagt, sie muss unbedingt mit Cem reden«, sagte Victoria, mehr zu sich selbst.
»Mais tut alors! Sagt mir jetzt endlich jemand, wer diese Madame Foulard ist?«, beschwerte sich Jaqueline.
Adam wusste weder, wieso Jaqueline plötzlich aufgetaucht war, noch was sie hier zu suchen hatte, aber er wollte, dass sie verschwunden war, wenn Lea kam.
»Wenn du uns jetzt bitte allein lassen würdest, Jaqueline.«
Die Vampirin verschränkte störrisch die Arme und funkelte ihn zornig an. Adam merkte, wie ihm der Geduldsfaden zu reißen drohte.
»Hör zu, Jaqueline ...«
»Miss Donavan?«, stieß Victoria überrascht hervor.
Adam fuhr herum und sah Lea an den Stufen stehen, die zum Alkoven hinabführten. Sie hatte das rote Kleid an, das er ihr heute früh gekauft hatte. Für einen kurzen Moment erstarrte sie, als sie ihn sah, sagte aber nichts.
»Ja, Mrs. Bilen. Verzeihen Sie, dass ich Sie so verwirre, aber ich muss unbedingt sofort mit Ihrem Mann sprechen.«
Victorias Augen wurden groß wie Untertassen. »Sie sind Madame Foulard?«
»Ich - ja, das bin ich.« Sie warf einen raschen Blick auf Adam und Jaqueline, dann kam sie die Stufen herunter und blieb neben Victoria stehen. »Ich kann Ihnen alles erklären. Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten?«
Victoria nickte unsicher. »Bitte, setzen Sie sich doch, Madame Fou ..., ich meine, Miss Donavan. Sie heißen doch Miss Donavan, oder?«
»Ja«, bestätigte Lea dankbar. »Ich weiß, es ist viel verlangt, aber könnten wir vielleicht unter uns ...«
Sie schaute Adam dabei nicht an. Der runzelte finster die Stirn.
»Was immer Sie mir zu sagen haben, können Sie in Adams Anwesenheit sagen. Er ist der beste Freund meines Mannes und gehört sozusagen zur Familie.«
Es wurde Zeit herauszufinden, was sie auf dem Herzen hatte. Adam wandte sich an Jaqueline.
»Würdest du uns jetzt bitte allein lassen?«
Sein Ton duldete keinen Widerspruch, und Jaquelines Nasenflügel bebten empört.
»Wenn Sie mich entschuldigen würden.« Sie erhob sich stolz. »Wir sehen uns dann später, mon cher.«
Lea wartete, bis die Französin gegangen war, bevor sie zu sprechen begann.
»Ich muss Ihnen ...« Sie hielt inne und legte den Kopf schräg, wie Adam es schon zuvor ein paar Mal bei ihr beobachtet hatte.
»Miss Donavan, ich muss mich noch einmal bei Ihnen entschuldigen. Meine Schwester Grace hat sich einfach unmöglich aufgeführt, und falls Sie Geld möchten ...«, begann Victoria, aber Lea hob abwehrend die Hand.
»Nein!«, zischte sie niemand Bestimmten an.
Victoria zuckte überrascht zurück.
»Lea?« Adam wurde es leid, ihren Sperenzchen noch länger zuzuschauen.
Lea drückte mit Daumen und Zeigefinger ihren Nasenrücken. Sie wirkte auf einmal sehr müde. Was war bloß los mit ihr?
»Hört auf, alle auf einmal auf mich einzureden!«, sagte sie in die Stille hinein.
Adam und Victoria tauschten verdutzte Blicke. Adam kam ein ziemlich verstörender Gedanke: War die Frau, die Ihn ganz verrückt machte, vielleicht selbst verrückt?
»Niemand hat was gesagt, Lea«, sagte Adam langsam.
Lea richtete sich gerade auf und schaute ihm direkt in die Augen. »Mary glaubt, dass du ihr helfen kannst.«
»Was redest du da?«, fragte er verwirrt.
»Mary möchte, dass ich dir etwas ausrichte. Sie hatte etwas von Pitlochry zu liefern gehabt, aber das Päckchen hat seinen Bestimmungsort nicht erreicht.«
Bei der Erwähnung des kleinen schottischen Dorfes in den Highlands blieb Adam fast das Herz stehen. Das konnte nicht sein, Lea war eirt Mensch. Es musste ein Zufall sein.
»Wovon redest du, zum Teufel?«
»Bist du wirklich sicher, dass er mir nichts tun kann?«, fragte Lea den leeren Stuhl neben ihr.
Na toll! Sie hatte nicht alle Tassen im Schrank! Er hätte erleichtert sein sollen. Dann konnte er ja auch nicht...
Nein, daran wollte er gar nicht erst denken.
Was immer ihre imaginäre Freundin zu sagen hatte, es schien Lea zu beruhigen. Sie richtete ihren Blick wieder auf Adam. »Mary sagt, ich soll dir ausrichten, dass sie der Kurier war und dass die Lösung gestohlen worden ist.«
Lea stieß, trotz Marys Versicherungen, ihren Stuhl unwillkürlich ein paar Zentimeter zurück. Adams Gesichtsausdruck war mörderisch. Egal, wie oft Liam ihr versichert hatte, dass Vampire Menschen nichts antun dürfen, dieser Vampir hier sah so zornig aus, dass er sich im Moment vermutlich nichts mehr aus ihren Gesetzen machte.
»Was soll das? Los, rede!«, herrschte er sie an.
Keine Spur mehr von dem Mann, der ihr sein Bett zum Schlafen überlassen, der Frühstück für sie bestellt hatte. Dieser Mann hier war ein Fremder. Wie konnte er ein Vampir sein? Wieso hatte sie es nicht gewusst? Wieso hatte Liam es nicht gewusst? Dieser verdammte Geist! Er sollte doch wohl die Mitglieder seiner eigenen Art erkennen?!
»Lea, du siehst fürchterlich zornig aus«, bemerkte Liam neben ihr.
»Ach ja?«, zischte sie.
»Was?« Adams Augen hatten sich zu Schlitzen verengt.
Lea verspürte ein schmerzhaftes Kribbeln im Nacken, das sich rasch in ihrem ganzen Kopf ausbreitete. Liam hatte ihr erzählt, dass Vampire Gedanken lesen können, und ihre Angst wich heller Wut. Sie beugte sich vor.
»Versuchst du etwa, meine Gedanken zu lesen?«
Adam zuckte überrascht zurück.
»Adam, bitte! Was geht hier vor?«, rief Victoria beunruhigt aus.
Lea hatte die andere einen Moment lang ganz vergessen.
Sie holte tief Luft, um sich wieder zu beruhigen.
»Mrs. Bilen«, begann sie, aber Mary fing an auf sie einzureden, und sie konnte nicht mehr weitersprechen.
»Sie kann mir nicht helfen, sie ist ja noch ein Mensch.«
»Was meinst du mit ›noch‹?«, fragte Lea.
Victoria musterte sie verwirrt.
»Ihr Name stand auf der Lieferliste. Sie war eine derjenigen, die die Lösung bekommen sollten«, erklärte Mary.
»Ich bin einfach nie dazu gekommen, Lea von der Formel zu erzählen«, warf Liam ein.
»Weißt du was? Ich will's gar nicht wissen!«, rief Lea aufgebracht. Sie war todmüde. Das Gerede der Geister und dann dieser erzürnte Vampir, der vor ihr saß - und ein Gefühlschaos in ihr auslöste -, das alles ging über ihre Kräfte.
»Mary, sag mir einfach, was ich sagen soll«, befahl sie.
Mary beugte sich vor und begann in ihr Ohr zu flüstern.
Lea schloss die Augen und wiederholte Wort für Wort, was sie sagte.
»Mary sollte das Paket mit den Fläschchen nach Edinburgh bringen, aber man hat sie überfallen. Sie hat nicht gesehen, wer es war. Als sie ein Geräusch hinten im Lieferwagen hörte, hat sie angehalten und ist nach hinten gegangen, um nachzusehen. Und dann ...«
Mit bebender Stimme flüsterte ihr Mary auch den Rest ins Ohr. Lea versuchte, sich nicht von ihrem Kummer, ihrer Verzweiflung niederdrücken zu lassen, aber es war schwer. Sie schlug die Augen auf.
»Sie weiß nicht, was mit ihrer Leiche geschehen ist«, sagte sie zu Adam, die Tränen fortblinzelnd. »Wahrscheinlich liegt sie irgendwo am Rand der M90.«
Victoria klappte der Unterkiefer herunter. »Ihr Geist ist jetzt hier bei uns?«
Lea nickte. »Ja.«
»Das reicht!« Adam sprang auf und zeigte auf Lea. »Du kommst sofort mit!«
»Adam, wir sollten auf Cem warten«, protestierte Victoria.
»Victoria, das hier ist nicht deine Angelegenheit. Du bleibst hier, dein Mann wird bald da sein.« Mit diesen Worten packte er Lea beim Arm und zog sie auf die Füße.
Mit hartem Griff zerrte er sie zwischen den Tischen hindurch zum Ausgang. Sie rempelten dabei mehrere Leute an, doch das schien Adam kaum wahrzunehmen. Mary redete derweil ununterbrochen auf Lea ein, und Liam schrie Adam Proteste ins Ohr, für die dieser natürlich taub war.
Lea verstand kein Wort. Doch schon waren sie draußen.
Lea versuchte sich von Adam, der sein Handy am Ohr hatte, loszureißen, doch der umklammerte ihren Arm nur noch fester. Lea biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Adam schien nicht bewusst zu sein, wie hart er sie festhielt, konzentriert sprach er in sein Handy.
»Adam hier. Ja. Ist heute eine Lieferung nach Edinburgh losgegangen? Heute, ja. Ja, ich warte.«
Vor seinem Mund bildeten sich weiße Atemwölkchen in der kalten Luft. Er schritt weiter, Lea hinter sich her ziehend wie einen Sack Kartoffeln. Sie bogen um die Ecke in den Charlotte Square, in dessen Mitte ein hübscher Park mit hohen Bäumen und dichtem grünem Gras lag. Aber am heutigen Abend wirkte er eher unheimlich als friedlich.
»Morgen? Seid ihr sicher?«, sagte er ins Telefon. »Wer ist als Lieferant eingeteilt?« Adam blieb stocksteif stehen.
»Verstehe. Okay. Schickt mir alles, was ihr über sie habt, Telefonnummer, Adresse, Chronik, alles. Ja, aufs Handy.
Okay, gut.«
Bevor Lea wusste, wie ihr geschah, wurde sie an das gusseiserne Tor des Parks gedrückt. Adams wutentbranntes Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von dem ihren entfernt.
»Es gab heute keine Lieferung. Die Lieferung findet erst morgen statt. Wer zum Teufel bist du, und was führst du im Schilde?«
Adams dunkelblaue Augen wurden kohlschwarz. Lea versuchte ihn panisch von sich wegzustoßen. »Mein Gott, mein Gott...«
»Du Bastard! Ich bring dich um!«, brüllte Liam.
»Halt die Klappe, du Dummkopf! Ich kann ihr helfen!«, brüllte Mary. »Er ist ein Friedenshüter, Lea. Er darf dir nichts tun. Er will dir nur Angst einjagen, weil er dich für eine Gefahr hält. Hörst du, er will dir nur Angst einjagen!«
Lea hörte es, konnte aber in ihrer Panik nicht mehr klar denken.
»Ich habe gefragt, wer du bist und warum zum Teufel du Mary Robertson bedrohst?«
Adams Eckzähne wurden merklich länger. Lea erschrak so sehr, dass ihr Kopf zurückzuckte und mit aller Gewalt gegen die Gitterstäbe prallte.
Eine willkommene Schwärze schlug über ihr zusammen, und ohnmächtig sank sie zu Boden.